Ein Bericht von Sifu Lo Man Kam über seinen Onkel den ehrenwerten Meister Yip Man.
Obwohl das chinesische Kung Fu seit der Zeit Bruce Lees an Popularität zugenommen hat, kennen nur wenige Leute die Geschichte von Bruce Lees Meister - Yip Man, dem Oberhaupt des Wing Chun Stils. Der Autor dieses Artikels, Sifu Lo Man Kam, ist der Neffe von Yip Man und der ältere Kung Fu Bruder von Bruce Lee. Er ist zur Zeit der Grossmeister des Wing Chun Stils in Taiwan. Als Jugendlicher verbrachte Meister Lo Man Kam viel Zeit mit Meister Yip Man im Fatshan-Distrikt der Provinz Kanton. Später, als junger Mann, in Hong Kong, war er einer der ersten Schüler Meister Yip Mans und lernte viele Jahre lang von ihm. Deshalb ist sein Wissen um das von Yip Man praktizierte Kung Fu sehr umfangreich. In diesem Artikel gibt er uns die Gelegenheit, an einigen der Abenteuer und Ereignisse teilzuhaben, die sich im Leben Yip Mans ereigneten.
Yip Mans wirklicher Name war "Jee Man". Er kam aus dem Fatshan-Distrikt der Provinz Kanton in Südchina. Yip Man war der zweitgeborene Sohn der Familie Jee, die in dieser Gegend sehr bekannt war. Sie lebte in der Fuk Yin Strasse in Mulberry Gardens. Links vom Haupteingang zur Familienresidenz war ein berühmtes Teehaus namens Tau Yan Gui, daneben die wohlbekannte Bäckerei Gong Hing Lung. Die Häuser in Mulberry Gardens waren allesamt sehr gross un in ganz Fatshan bekannt.
Die ersten Stunden...
Ich, Lo Man Kam, wurde in Hong Kong geboren, wo ich auch die frühen Jahre meines Lebens verbrachte. Während des zweiten Weltkriegs ging ich wegen der japanischen Besatzung Hong Kongs nach Fatshan, um in Mulberry Gardens zu leben. Zu jener Zeit traf ich meinen Onkel jeden Tag. Auch erzählte mir meine Mutter viele Geschichten über ihn, und ich erinnere mich noch heute an viel Dinge aus seinem Leben. Im Alter von sieben Jahren wurde mein Onkel Schüler von Meister Chan Wah Shun. Meister Chan war zu diesem Zeitpunkt bereits sehr alt, so dass er nicht mehr so viele Schüler unterrichtete. In der Tat war Yip Man der letzte Schüler, den er annahm. Nachdem mein Onkel sein Closed Door-Schüler geworden war, schloss ihn Meister Chan bald in sein Herz. Er wurde Meister Chans Lieblingsschüler. Auch Yip Mans ältere Kung Fu-Brüder, wie z.B. Ng Jung Su, Lu Yu Ji und Chan Yu Min, mochten ihn sehr gern und kümmerten sich um ihn. Meister Chans Unterrichtsgebühr war sehr hoch - jeder Schüler musste mehrere Unzen Silber bezahlen, was zu dieser Zeit in China eine gewaltige Summe bedeutete. Natürlich konnte sich kaum jemand diesen Preis leisten. Deshalb hatte Meister Chan, obwohl er seit über zehn Jahren unterrichtet hatte, weit weniger als hundert Schüler. Wegen dieser hohen Kosten erwarb sich Wing Chun den Ruf des Kung Fu des reichen Mannes.
Sechs Jahre später war Meister Chan dem Tode nahe. Kurz bevor er starb beauftragte er einen seiner Schüler, Ng Jung Su, den jungen Yip Man weiter im Wing Chun zu unterrichten. Yip Man folgte seinem älteren Kung Fu-Bruder drei Jahre lang. Im Alter von sechzehn Jahren schliesslich ging Yip Man nach Hong Kong, um dort am St.Steven's College Englisch zu studieren. Dort wurde er von einem Klassenkameraden mit Leung Bik bekanntgemacht, dem zweiten Sohn von Leung Jan, dem Lehrer Yip Mans Sifu Chan Wah Shun. Leung Bik hatte von seinem Vater gelernt und war im Wing Chun sehr geübt. Mein Onkel lernte von ihm drei Jahre lang und brachte seine Fähigkeiten zur Perfektion, so dass er schliesslich die Kunst des Wing Chun vollends meisterte.
Fatshan verlassen...
Unter all seinen Mitschülern verstans sich Yip Man am besten mit Yuen Chi Shan, einem Schüler von Ng Jung Su. Yip und Yun waren gleichaltrig; sie lernten gemeinsam und verbrachten viel Zeit zusammen im Hause meines Onkels. In Yip Mans Haus traf Yun meinen Cousin Yip Chun. Er mochte meinen Cousin sehr, und so zeigte er ihm die erste Form des Wing Chun, die Siu Lim Tau. Während der ersten Jahre der chinesischen Republik gab es in Fatshan eine jährliche stattfindende Parade namens "Herbstszenen". Einmal ging Yip Man sich die Festlichkeiten zusammen mit einer seiner Cousinen ansehen. Ein Armeeoffizier war von ihrer Schönheit sehr beeindruckt und begann, Annäherungsversuche zu machen. Mein Onkel trug eine traditionelle lange chinesische Robe und Stoffschuhe mit dünnen Sohlen. Wegen seiner eleganten Kleidung und der Tatsache, dass er nicht sehr gross war, sah er eher aus wie ein Gentleman statt wie ein Kämpfer. Der Offizier hielt ihn deshalb für einen Schwächling, der unfähig sei, seine Cousine zu beschützen, und wurde noch frecher und unverschämter. Mein Onkel konnte sein Verhalten schliessliche nicht länbger tolerieren. Er gebrauchte eine gleichzeitigen Attacke- und Verteidingungstechniken des Wing Chun, und der Offizier lag sogleich am Boden. Der Offizier zog daruafhin seinen Revolver, doch bevor er schiessen konnte, hatte Yip Man den Lauf ergriffen und gebrauchte die Kraft seines Daumens, um die Trommel herauszuklappen, was den Revolver unbrauchbar machte.
Als die Japaner Fatshan besetzten erfuhr die Militärpolizei von Yip Mans Ruf als Kung Fu-Kämpfer und lud ihn ein, ihr Ausbilder zu werden. Er weigerte sich allerdings aus prinzipiellen Gründen. Dies ärgerte die Japaner so sehr, dass sie einen anderen Kung Fu-Meister, er hiess mit Nachnamen Leung, beauftragten, Yip Man herauszufordern. Erst nach wiederholten Aufforderungen nahm Meister Yip die Herausforderung an. Meister Leung hielt seinen Fauststoss für sehr stark und als der Kampf begann, griff er damit Meister Yip an. Yip Man blockte den Angriff mit Gang Sau. Dann benutzte er den P'o Bu Schritt aus der Cham Kiu-Form, um vorzugehen. Er setzte seinen rechten Fuss nach innen und direkt neben den rechten Fuss Meister Leungs, was dessen Bein blockierte. Dann wendete er leicht und benutzte die Energie dieser Wing Wing Chun-Technik um seinen Gegner geschlagen zu Boden zu bringen.
Nach diesem Vorfall war es für Yip Man nötig, Fatshan zu verlassen, da es immer deutlicher wurde, dass die Japaner ihm etwas antun würden.
Yip Mans ersten Schüler...
Trotzdem half er weiterhin der chinesischen Regierung bei ihrem Widerstand gegen die Japaner. Nach der Widerstandszeit unterrichtet Onkel Yip kein Wing Chun, sondern arbeitete als Ermittler bei der Polizei. Um die Gegend von bösen Elementen zu befreien und die Einwohner zu beschützen, löste Meister Yip viel Fälle, darunter einen Entführungsfall, in dem der Sohn eines wohlhabenden Händlers in der Sha Tang Fang-Strasse entführt wurde und die Verhaftung eines berühmten Kriminellen im Sing Pin-Theater. Yip Man führte seine Karriere weiter als Oberhaupt der Militärpatrouille in Südkanton bis zum Zusammenbruch der nationalistischen Regierung.
Nach dem Fall der nationalistischen Regierung verliess Yip Man Fatshan und ging nach Hong Kong. Durch die Vermittlung seines guten Freundes Lee Man eröffnete er eine Wing Chun-Schule in der Kowloon Restaurant Association ( auch bekannt als Mees Union) in der Da Na Strasse in Kowloon. Am Anfang hatte er nicht mehr als 10 Schüler, darunter Lee Man, Leung Sheung, Lok Yiu und ich selbst. Lee Man war natürlich nicht nur ein Schüler, sondern auch ein guter Freund meines Onkels. Später kamen auch Tsui Sheung Tin und Yip Bo Ching in die Klasse.
Die Zahl der Schüler stieg stetig, bis im Jahre 1954 Yip Man die Mess Union verliess, um eine grössere Schule in der Hai Tian Strasse in Deep Water Bay in Kowloon zu gründen. Die anderen Schüler und ich folgten ihm dorthin und trainierten weiter wie üblich. Zu jener Zeit musste Onkel Yip auch zwei- oder dreimal pro Woche nach Hong Kong Island fahren, um einige ander Schüler zu unterrichten, die er in Hsin Hwan um im Tai Wong-Tempel hatte. Die Zahl der Schüler stieg witer an, so dass mein Onkel die Schule zuerst von der Hai Tian Strasse in die Lee Tat Strasse und dann nach Lee Jing Village und ins Shin Yip Building.
Yip Man warb nie öffentlich um Schüler; man musste ihm vorgestellt werden oder einen seiner Schüler kennen. Bruce Lee wurde meinem Onkel von Cheung Jwo Chin ( William Cheung) vorgestellt, der heute ein berühmter Wing Chun Kämpfer und -Lehrer in Australien ist. Nach seiner förmlichen Einführung begann Bruce Lee, in der Schule in der Lee Tat Strasse von meinem Onkel zu lernen.
Yip Man | Kung Fu in Taiwan.
Yip Mans Unterrichtsmethode hing von Wissen, Talent, persönlichen Angewohnheiten und Interessen des jeweiligen Schülers ab. Seine innovative Methode des persönlich abgestimmten Unterrichts sollte dazu dienen, jeden Schüler auf seine Art, abhängig von seinen Trainingsangewohnheiten und seinen physischen Fähigkeiten, im jeweils angemessenem Tempo vorankommen zu lassen.
Yip Mans Stärke war mit siebzig Jahren der eines jungen Mannes ebenbürtig. Zehn Jahre zuvor kamen in Hong Kong wegen der grossen Zahl von Banden Raubüberfälle recht häufig vor. Eines Nachts versuchten zwei junge Schläger Yip Man zu berauben, als er einen Spaziergang unternahm. Onkel Yip verwendete einen hohen Pak Sau um das von dem jungeren der beiden Angreifer gehaltene Messer nach oben und aus der Gefahrenzone zu bringen, während er den Schläger gleichzeitig mit einem Tritt nach hinten beförderte. Bevor der andere Jugendliche Zeit hatte, die Situation zu erfassen, drehte sich Yip Man zu ihm um und trat ihn ebenfalls, was den versuchten Raubüberfall beendete.
Neben seiner lebenslangen Leidenschaft für dass Kung Fu interessierte sich Yip Man auch für chinesische Kampfhunde und Kampfhähne. In der Provinz Kanton gab es eine bestimmte Hahnenart, die für ihre aggressive Natur und ihren Kampfgeist berühmt war. Wann immer zwei Männchen dieser Spezies aufeinadertreffen, beginnen sie sofort zu kämpfen, üblicherweise bis zum Tod. Bei diesen Kämpfen, die Yip Man immer gerne anschaute, wiegen beide Teilnehmer zuerst ihre Hähne auf sehr genauen Waagen, um sicherzustellen, dass beide ungefähr das gleiche Gewicht haben, so dass ein fairer Kampf gewährleistet ist. Die beiden Hähne werden dann vorgezeigt und oft werden Wetten abgeschlossen, bevor der Kampf beginnt. Diese Kampfhähne sind so tapfer, dass sie auch wenn sie im Kampf eines ihrer Gliedmassen verloren haben, tapfer weiterkämpfen statt vor ihrem Gegner zu fliehen.
Ich wurde von meinem Onkel 1956 ermutigt, nach Taiwan zu gehen. Ich repräsentierte dort das jung Volk Hong Kongs und erhielt private Ratschläge von Prädident Chiang Kai-Shek.
Als ich später nach Hong Kong zurückkehrte, schalt mich mein Onkel. Yip Man war der Ansicht, dass ich eine grosse Chance verstreichen liess, und so kehrte ich 1960 nach Taiwan zurück, um meinem Land damit zu dienen, dass ich die Militärschule besuchte und die Kriegskünste als Feldkommandant erlernte.
1974 eröffnete ich mit viel Ermutigung durch meinen Cousin Yip Chun eine Schule an der Pa Te Rd., in Taipei. Zu jender Zeit war ich der einzige Wing Chun-Lehrer in Taiwan. Wenn ich also heute darüber nachdenke, wird mir klar, dass Yip Mans Absicht, als er mich zurückschickte, war, dass ich mich meinem Land widme und helfe, das Kung Fu in Taiwan zu fördern. Sein Wunsch ist heute erfüllt, denn hier lernen inzwischen französische, amerikanische, englische, südafrikanische, ostafrikanische, neuseeländische, deutsche und schweizer Schüler. Bei den Asian and World Kung Fu Contests erwarben sich die Mitglieder des Wing Chun-Teams hohe Ehren und halfen so, den Wing Chun-Stil in der Welt zu fördern.
Quelle:
Buch Siu Lim Tao von Marc Debus
Verlag: Monsenstein und Vannerdat; Auflage: 1., Aufl. (Oktober 2004)
Sprache: Deutsch ISBN-10: 393731296X ISBN-13: 978-3937312965